Von Aschaffenburg über Königstein nach Davos. Nur wenige hundert Meter entfernt vom Geburtshaus des bedeutenden expressionistischen Künstlers Ernst Ludwig Kirchner stand von Mitte Oktober 2021 bis Mitte Januar 2022 am meistfrequentierten Ort der ganzen Stadt, dem Bahnhofsvorplatz, ein kubisches Bauwerk in de Maßen von etwas mehr als 6 x 6 x 6 Metern: In leuchtenden Farben – vor allem dem berühmten „Kirchner-Blau“ – sprangen den Passanten fröhlich sich in Meereswellen tummelnde Badende ins Auge. Geschaffen wurden sie vom kriegstraumatisierten Ernst Ludwig Kirchner in einem Sanatorium in Königstein im Taunus im Weltkriegs-Jahr 1916: Dort malte er auf mehr als 4 m hohen Wänden seine schmerzlich-schönen Erinnerungen an Ferien auf der Ostseeinsel Fehmarn mit ihren Badenden in raumgreifenden Bildern und leuchtenden Farben von der Seele. Dieses große Werk expressionistischer Wandmalerei und Raumgestaltung war in der Zeit des Nationalsozialismus zerstört worden. Zeitgenössische SW-Fotos ließen zwar die großartige Komposition erahnen; die entscheidende Farbigkeit schien jedoch für immer verloren. Als dann vor mehr als 10 Jahren Lumière-Platten aus dem Jahr 1926 mit Farbfotografien der Bilder wiederentdeckt wurden, verstand man Kirchner, wenn er sagte: „Ich kann nicht verstandesmäßig arbeiten, ich bin zu sehr Farbenmensch dazu.“ Dr. Brigitte Schad, die Gründungsvorsitzende des Vereins Kirchnerhaus Aschaffenburg, jetzt Leiterin des Kirchnerhaus Museums Aschaffenburg und Kuratorin der „Badenden” Ausstellung, entwickelte den ehrgeizigen Plan, die Wandgemälde zu rekonstruieren. Sie leistete viel Überzeugungsarbeit und fand tatkräftige Mitstreiter. Dr. Brigitte Schad und Prof. Dr. Jens Elsebach von der TH Aschaffenburg entwickelten ein Konzept zur Rekonstruktion der Wandbilder und später eines zur maßstabsgetreuen Nachbildung des Brunnenturms. Um Kirchners Farben auf den Wandgemälden zu rekonstruieren, wurden nicht nur von der TH Aschaffenburg die Glasplatten digitalisiert und computergestützt ausgewertet, sondern auch viele andere Gemälde des Künstlers von Dr. Brigitte Schad und der TH analysiert, sodass im Fotolabor die Wandgemälde im Originalmaßstab rekonstruiert werden konnten. Wir können davon ausgehen, dass das Ergebnis dem ursprünglichen Zustand sehr nahe kommt. Der Innenraum des Brunnenturms wurde mit Laserscan-Technologie dreidimensional erfasst. Diese computergestützten Arbeiten waren die Voraussetzung für ein fotorealistisches 3-D-Modell des Originalzustandes des Brunnenturms im Sanatorium aus den 1920er Jahren. Trotz der Zerstörung können Kunstinteressierte den Wandzyklus mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung nun wieder in seiner Farbigkeit und Raumwirkung virtuell am Bildschirm erleben: als Video-Animation verschiedener Zustände des Brunnenturms. Mit der realen Rekonstruktion der fünf bis zu 4,14 Meter hohen Wandgemälde hat das Kirchnerhaus auch einen bemerkenswerten Schritt in den städtischen Raum unternommen: Auf dem Bahnhofsvorplatz, neben dem Haupteingang, entstand ein eigens dafür geschaffenes Bauwerk, der „Kirchner-Kubus”, eine begehbare Nachbildung eben dieses Brunnenturms. Sie gilt in Fachkreisen als Sensation und wurde von anderen Museen, die ebenfalls Kirchner im Fokus haben, sofort angefragt. Aufgrund des Erfolgs dieses am Aschaffenburger Bahnhofs- Vorplatzes entstandenen „Kirchner-Kubus“, einem von privaten und öffentlichen Förderern unterstützten Projekt des Kirchnerhaus Aschaffenburg e.V. in Zusammenarbeit mit der TH Aschaffenburg und einer Aschaffenburger Baufirma, geht der Kubus nun über Landesgrenzen hinweg auf Tour und macht ab 24. März bis 16. Juni 2022 zunächst Station in Königstein im Taunus. Im Zentrum der Stadt, in der Konrad-Adenauer- Anlage, wird er erneut an das Schaffen des Expressionisten während seines Sanatoriumsaufenthaltes in Königstein im Jahr 1916 erinnern. Die Einzigartigkeit dieser Idee und ihres daraus entstandenen Bauwerks sprach sich in Kirchner- Kreisen bald weit herum, und so erhielt der Kirchnerhaus Verein Aschaffenburg vom namhaften Kirchner Museum in Davos die Anfrage, ob nach Königstein auch noch eine weitere Station in Davos, dem Heimatort Kirchners von 1918 bis zu seinem Tod 1938, möglich sei. Und so wird die dritte Station des „Kirchner-Kubus“ ein exklusiver Standort im Park vor dem bedeutenden Kirchner Museum Davos in der Schweiz sein. Dort wird er am 25. Juni 2022 eröffnet werden und bleibt wohl stehen, bis in Davos im Oktober der erste Schnee fällt. Und die von Aschaffenburg ausgegangene Tournee wird als großartiges Beispiel bilateraler kultureller Zusammenarbeit in Erinnerung bleiben; ein Wert, der in unseren kriegsbedrohten Zeiten nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.